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Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft 1987-08

Bibliografische Daten

fullscreen: Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft 1987-08

Strukturtyp:
Zeitschrift
Sammlung:
Bodensee Bibliotheken
Titel:
Kultur
Untertitel:
Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft
Publikationsort:
Dornbirn
Verlag:
Verein KULTUR - Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft

Persistente Url:
https://www.digishelf.de/piresolver?id=bsz310869048
Strukturtyp:
Ausgabe
Sammlung:
Bodensee Bibliotheken
Titel:
Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft 1987-08
Veröffentlichungsjahr:
1987-08-01

Persistente Url:
https://www.digishelf.de/piresolver?id=bsz310869048_1987_08

Artikel

Strukturtyp:
Artikel
Autor:
Huber, Norbert
Titel:
Cicerone der Conditio Humana oder: Das Belichten der Lage
Beteiligte Personen:
Huber, Norbert

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

  • Kultur
  • Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft 1987-08
  • Titelseite
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Interview mit Landesrat Dr. Guntram Lins
  • Ich bin noch immer Dalinist
  • Cicerone der Conditio Humana oder: Das Belichten der Lage
  • Magazin
  • Mundtot
  • Der literarische Beitrag: Wolfgang Hermann - Die Minimale Welt
  • Blintimus Blinsky mit den Schwarzen bei den Schwarzen
  • Konservative Kunst: 14 Tage lang präsentieren 14 Künstler
  • Die vorletzte Seite

Volltext

12 
KULTUR 
CICERONE DER 
HUMANA ODER: 
DAS BELICHTEN DER 
Zu Kurt Bracharz’ "Ein Abend-Essen 
zu Fuß. Notizen zu Lichtenberg". 
"Man muß nie den Menschen nach dem 
beurteilen,was er geschrieben hat, 
sondern nach dem,was er in Gesell 
schaft von Männern,die ihn gewach 
sen sind, spricht." Bracharz sagte 
einmal zu mir, er gebe seinen Senf 
zu Lichtenberg. Nun, er ist nicht 
schlecht gewürzt, finde ich. Aber 
wie steht es mit dem ganzen Ge 
richt, sprich Buch? Es ist soeben 
im Diogenes Verlag erschienen. 
Ich kenne zwar Bracharz, wer aber 
ist Lichtenberg?, mag sich manch 
einer denken (ohne übertreiben zu 
wollen). Wer also ist, wer war Ge 
org Christoph Lichtenberg (1742 - 
1799)? Jüngster von 18 Kindern ei 
nes Pfarrers, Professor der Philo 
sophie, habilitiert in "reiner und 
angewandter Mathematik", dann Or 
dinarius für Experimentalphysik an 
der von England gegründeten Göt 
tinger Uni, ehedem Landvermesser, 
Handwerksbursche, Augenzeuge der 
1. Industriellen Revolution, Gast 
an der englischen Konigstafel, ei 
ner der besten Kenner englischen 
Lebens und Geistes, in Verbindung 
mit Herder, Klopstock, Förster, 
Sonderling, geachteter Gelehrter, 
rachitischer Krüppel, Charaktero- 
loge, Physiognomiker, Entdecker 
der elektrostatischen "Lichtenber- 
gischen Figuren", Chemiker, ratio 
nalistischer Ästhet, abergläubi 
scher Rationalist,Sensualist, Auf 
klärer, Präromantiker, und doch 
Warner vor "der Seuche der Schwär 
merei", die "Finsternis über Euro 
pa" verbreiten möchte, Pragmati 
ker, "Wissenschaftsjoumalist" aus 
Geldnöten, möglicher Paradefall 
der Adlerschen Kompensationstheo- 
rie, Liebhaber junger und jüngster 
Mädchen und dessen, was man mit 
diesen alles machen kann, Zweif 
ler, Genießer, Briefeschreiber und 
der erste große Aphoristiker der 
deutschen Literatur der Neuzeit - 
und ein großer Vergessener. 
Bracharz zu Lichtenberg: "Lichten 
berg ist der einzige, zu dessen 
Aphorismen mir Kommentare zuflie 
gen, bei Nietzsche etwa oder bei 
Lee (im einen Zeitgenossen zu nen 
nen) funktioniert das nicht. Lich- 
tenbergs Aphorismen sind nicht nur 
eine Milchstraße von Einfällen, 
sondern rufen auch eine solche 
hervor, und das ist ihre wichtige 
re Eigenschaft." Nutznießer ist 
der Leser: Zum einen kann er einen 
seiner "Klassiker" entdecken, pur, 
zum anderen gleich die subjektive 
aktuelle Umsetzung, das heißt, das 
Belichten der Lage, "classic en- 
lightenment".Die Konstellation ist 
vielversprechend: Die Erfahrung - 
der Engländer würde "experience" 
sagen, der Experimentierfanatiker 
Lichtenberg wäre entzückt -, beim 
Lesen doppelt herausgefordert zu 
werden, ist die nützlichste; auf 
einen Lichtenberg-Aphorismus folgt 
die Anmerkung von Bracharz, Seite 
für Seite, dazwischen Platz für 
die eigene, wie es sich gehört; 
ein Polylog ad infinitum, man kann 
das Buch ja weiterreichen. 
Interpretation, Dialog, Marginale, 
Glossar, Bormots, Mini-Exkurse, 
laue Witzchen, Statements (der 
Untertitel spricht schlicht von 
"Notizen") - weder noch und doch 
von allem etwas. Bracharz zeigt 
uns den vielseitigen Lichtenberg, 
überraschend aktuell, und er zeigt 
uns den vielseitigen Bracharz »mit 
unter überraschend direkt. Er 
schlägt Brücken zur gegenwärtigen 
Biologie, Physik, Psychologie, Li 
teratur, Politik. Er benutzt die 
Aphorismen als Waffe gegen (diesen 
unseren) Zeitgeist, aber auch um 
gekehrt als Zielscheibe einer Kri 
tik an den Schlingfallen des Den 
kens, dann wiederum als Vehikel 
auf der Reise der Selbstanalyse. 
Bracharz nimmt sich kein Blatt vor 
den Mund, greift Bilder auf, Ver 
gleiche, Konstellationen und setzt 
Zeitgenossen und Zeitgenössisches 
ein (etwa der köstliche Seitenhieb 
auf Handke, aber auch auf Wald 
heim), er distanziert sich, läßt 
sich einfangen, spinnt den Gedan 
kenfaden fort oder zieht daran, 
bis er reißt, hält Eigenes entge 
gen, ironisch, zynisch, provokant, 
spitzbübisch, aber auch lapidar 
oder sogar didaktisch. Dabei un 
ter scheidet Bracharz sehr sauber 
zwischen eigenen Gedanken, Aller 
weltsgedanken und bloßer Feststel 
lung; eine Eigenschaft, die selten 
genug ist. 
Mitunter kommt es aber doch zu 
Spiegelfechtereien, wenn die Lich 
tenberg 1 sehe Aussage, meinem Ein 
druck nach, klarer ist, als Bra 
charz denkt, der irgendetwas sucht 
(aber das nur äußerst selten),oder 
auch nur Platitüden entgegenhalten 
kann. Der gegenteilige Fall, daß 
etwa beides enigmatisch bleibt, 
was indessen ebenso selten vor 
kommt, kann ein solches Buch ei 
gentlich nur reizvoller machen. 
Allerdings, und das liegt nun eben 
in der Natur eines solchen Unter 
nehmens, gibt es andererseits auch
	        

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